Cholesterin neu verstehen – warum es mehr kann, als man denkt

15 min von Malte Herberhold

Kaum ein Thema wird in der Medizin so kontrovers diskutiert wie Cholesterin. Jahrzehntelang galt es als Hauptschuldiger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Doch die Wissenschaft zeigt heute: So einfach ist es nicht. Cholesterin ist nicht nur harmloser als sein Ruf – es ist sogar lebensnotwendig.

Inhalt

Was Cholesterin im Körper leistet

Cholesterin ist eine fettähnliche Substanz und ein zentraler Baustein unseres Körpers. Es steckt in jeder Zellmembran, ist Ausgangsstoff für wichtige Hormone wie Testosteron und Östrogen und wird zur Bildung von Vitamin D benötigt. Ohne Cholesterin wäre Leben schlicht nicht möglich.

Wie Cholesterin zum „Bösewicht“ wurde

In den 1970er-Jahren stieg die Zahl der Herzinfarkte stark an – sogar der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower war betroffen. In den Gefäßablagerungen (Plaques) fand man große Mengen Cholesterin. Die Schlussfolgerung lag nahe: Cholesterin muss die Ursache sein.

Studien wie die „Seven Countries Study“ von Ancel Keys schienen diese Annahme zu bestätigen, obwohl sie später als methodisch fehlerhaft erkannt wurde. Trotzdem setzte sich die Idee vom „gefährlichen Cholesterin“ über Jahrzehnte fest – mit weitreichenden Folgen für Ernährungsempfehlungen und das Gesundheitsbewusstsein.

Heute wissen wir: Diese Sichtweise war zu einseitig.

LDL, HDL & Co. – wie Cholesterin wirklich transportiert wird

Cholesterin ist fettlöslich und kann sich daher nicht einfach im Blut bewegen. Es braucht spezielle Transporter – sogenannte Lipoproteine.

Die wichtigsten sind:

  • LDL (Low Density Lipoprotein) → bringt Cholesterin von der Leber zu den Zellen
  • HDL (High Density Lipoprotein) → transportiert überschüssiges Cholesterin zurück zur Leber

Im Idealfall sind beide im Gleichgewicht. Überwiegt LDL deutlich, kann sich Cholesterin in den Gefäßwänden ansammeln. Deshalb gilt bis heute das Verhältnis von HDL zu LDL als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – doch auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. 

Nicht jedes LDL ist gleich – die Sache mit den „großen“ und „kleinen“ Partikeln

LDL ist nicht automatisch „schlecht“. Entscheidend ist die Größe und Dichte der Partikel:

  • Große, fluffige LDL-Partikel (lbLDL) gelten als wenig gefährlich.
  • Kleine, dichte LDL-Partikel (sdLDL) sind dagegen besonders risikoreich, da sie leichter in Gefäßwände eindringen und dort oxidieren können.

Merke: Nicht die Menge des Cholesterins ist entscheidend, sondern die Art des Transports.

Warum der Cholesterinwert allein wenig aussagt

Stellen Sie sich den Cholesterintransport im Blut wie ein Netzwerk aus Lastwagen vor:
Jeder LDL-Partikel ist ein LKW, der Cholesterin als „Fracht“ zu den Zellen bringt.

  • Der LDL-C-Wert, den Ihr Arzt misst, beschreibt die Gesamtmenge der transportierten Fracht – also das gesamte Gewicht aller LKW-Ladungen.

Das kann zu sehr unterschiedlichen Situationen führen: Zwei Menschen können denselben LDL-C-Wert haben – z. B. 120 mg/dl. 

  • Person A hat wenige große, moderne LKWs (große LDL-Partikel)
  • Person B hat viele kleine, veraltete LKWs (small dense LDL) auf der „Blutstraße“

Beide transportieren die gleiche Gesamtmenge Cholesterin – aber bei Person B ist der Verkehr dichter, riskanter und störanfälliger.

Take-away:

Der Cholesterinwert (LDL-C) zeigt nur die Gesamtladung – nicht, wie viele LDL-Partikel unterwegs sind und welche Art von „Fahrzeugen“ sie sind.
Deshalb liefert der ApoB-Wert oft das realistischere Bild des Herz-Kreislauf-Risikos.

Warum ApoB mehr sagt als der LDL-Wert

Der ApoB-Wert (Apolipoprotein B100) zeigt, wie viele LDL-Teilchen tatsächlich im Blut unterwegs sind – nicht nur, wie viel Cholesterin sie transportieren.

  • Der ApoB-Wert zeigt also wie viele LKWs unterwegs sind – unabhängig davon, wie viel jeder Einzelne geladen hat.

Da jedes LDL-, VLDL-, IDL- und Lp(a)-Partikel genau ein ApoB-Molekül trägt, zählt dieser Wert im Prinzip alle „LKW“ auf den Straßen.

  • Hoher ApoB-Wert: Viele kleine, dichte LDL → höheres Risiko
  • Niedriger ApoB-Wert: Wenige große LDL → günstigeres Profil

Ein scheinbar normales LDL kann also trügerisch sein, wenn der ApoB-Wert zu hoch ist.

Wie kleine oder große LDL-Partikel entstehen

Der Körper bildet LDL nicht direkt. Zunächst produziert die Leber VLDL-Partikel, die viele Triglyzeride (Fette) enthalten. Diese werden im Blut nach und nach umgebaut:

  1. VLDL gibt Fettsäuren an Zellen ab → wird zu IDL
  2. IDL verliert weiter Fette → wird zu LDL

Je nach Stoffwechsellage entstehen daraus entweder:

  • große, weniger riskante LDL (lbLDL) – bei gesunder Fett- und Kohlenhydratbalance
  • oder kleine, dichte LDL (sdLDL) – bei zu vielen Triglyzeriden, Insulinresistenz und Übergewicht

Faktoren, die sdLDL begünstigen

  • Hoher Triglyzeridspiegel
  • Übergewicht oder Insulinresistenz
  • Übermäßiger Konsum von Zucker und raffinierten Kohlenhydraten

Faktoren, die lbLDL fördern

  • Ausgewogene Ernährung mit gesunden Fetten
  • Gute Insulin- und Stoffwechselregulation
  • Regelmäßige Bewegung

Lebensstil und Cholesterin – was Sie wirklich beeinflussen können

Lange Zeit stand Fett als Hauptverursacher hoher Cholesterinwerte am Pranger. Doch heute ist klar: Nicht die Fettmenge, sondern die Art der Ernährung und die Stoffwechselgesundheit sind entscheidend.

Triglyzeride und Insulinresistenz

Hohe Triglyzeride führen dazu, dass die Leber viele TG-reiche VLDL-Partikel bildet. Diese werden später zu sdLDL – den riskanten, kleinen LDL-Formen.
Niedrige Triglyzeride hingegen begünstigen die Entstehung der größeren, harmloseren LDL-Partikel.

Typische Ursachen für hohe Triglyzeride:

  • Zucker, Fruktose und Weißmehlprodukte
  • Bewegungsmangel
  • Übergewicht und Insulinresistenz
  • Übermäßiger Alkoholkonsum

Gesättigte, ungesättigte und Transfette – was wirklich zählt

Das alte Dogma „gesättigte Fette sind gefährlich“ ist überholt. Entscheidend ist das Verhältnis und die Qualität der Fette.

  • Gesättigte Fettsäuren (z. B. aus Kokosöl, Butter)
    erhöhen zwar das LDL leicht, aber meist in Form der großen, weniger riskanten Partikel (lbLDL).
    Tipp: In Maßen und am besten bei reduzierter Kohlenhydratzufuhr.
  • Einfach ungesättigte Fettsäuren (MUFAs) – etwa in Olivenöl oder Avocado –
    senken Triglyzeride, verbessern die Insulinsensitivität und fördern größere LDL-Partikel.
  • Mehrfach ungesättigte Fettsäuren (PUFAs) – z. B. in Sonnenblumen-, Soja- oder Maiskeimöl –
    senken LDL und Triglyzeride, sind aber oxidationsempfindlich.
    Tipp: Nur hochwertige Öle verwenden und nicht stark erhitzen.
  • Transfettsäuren (z. B. in Fertigprodukten oder bei stark erhitztem Öl)
    erhöhen LDL, senken HDL und steigern den Anteil an sdLDL – die ungünstigste Kombination.

Die besondere Rolle von Omega-3-Fettsäuren

Omega-3-Fettsäuren (EPA und DHA) aus fettem Fisch oder Algenöl wirken gleich mehrfach positiv:

  • Senken Triglyzeride → weniger Bildung schädlicher sdLDL
  • Machen LDL-Partikel größer und weniger dicht
  • Wirken entzündungshemmend
  • Unterstützen die Gefäßfunktion und erhöhen leicht den HDL-Spiegel

Fazit: Omega-3-Fettsäuren verbessern das gesamte Blutfettprofil und tragen messbar zu Herz-Kreislauf-Gesundheit bei.

Was wirklich zählt: das Gleichgewicht

Nicht die bloße Menge an Cholesterin entscheidet, sondern:

  • wie es im Körper transportiert wird,
  • wie gesund der Stoffwechsel arbeitet,
  • und welche Ernährung den Fettstoffwechsel unterstützt.

Ein gesunder Lebensstil kann das Verhältnis zwischen „guten“ und „schlechten“ LDL-Partikeln aktiv verbessern – unabhängig davon, ob die Cholesterinwerte im Blut hoch oder niedrig erscheinen.

Praktische Take-aways für ein gesundes Cholesterin-Profil

  • Weniger Zucker & Weißmehl: Reduziert Triglyzeride und unterstützt gesunde LDL-Strukturen.
  • Keine Angst vor guten Fetten: Eine ausgewogene Mischung aus gesättigten, einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren ist ideal.
  • Regelmäßig bewegen: Bewegung verbessert die Insulinempfindlichkeit und senkt sdLDL.
  • Omega-3 integrieren: Z. B. durch Algenöl oder fetten Fisch.
  • Frisch und ballaststoffreich essen: Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte unterstützen den Stoffwechsel.
  • Alkohol in Maßen: Zu viel Alkohol lässt Triglyzeride steigen.

Fazit

Cholesterin ist kein Feind, sondern ein lebenswichtiger Stoff. Entscheidend ist, wie der Körper damit umgeht – und das lässt sich durch Ernährung, Bewegung und bewussten Lebensstil aktiv beeinflussen.

Ein gesunder Fettstoffwechsel sorgt dafür, dass Cholesterin genau das tun kann, wofür es da ist: unseren Körper stark, flexibel und leistungsfähig halten.

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